Drei Gründe, warum „UX Design“ Unsinn ist… und warum ich den Begriff trotzdem verwende
Drei Gründe, warum „UX Design“ Unsinn ist… und warum ich den Begriff trotzdem verwende
Mitte der 90er, mit dem Aufkommen des Internets, wurde „User Experience“ zu einem Wort, und spätestens mit der Durchsetzung des „Web 2.0“ in den frühen 2000ern auch zu einer Berufsbezeichnung. Aber handelt es sich bei UX Design überhaupt um einen eigenen Beruf, der eine eigene Bezeichnung verdient hat?
1. Das Problem mit den Buzzwords
Die Welt von Marketing und Design hat die unangenehme aber unterhaltsame Eigenschaft, sich in sehr kurzen Zyklen immer wieder neu zu erfinden. Eigentlich logisch, denn es liegt im Kern dieser Branchen, kreative Geschichten zu erzählen – in Wort, Bild und Ton, aber auch in Form und Funktion.
Hierbei helfen Buzzwords, die im Management immer gerne aufgegriffen werden, um einander zu signalisieren, man sei auf dem neuesten Stand. So kommen Geschichten zügig in Umlauf. Manche dieser Buzzwords verlieren jedoch bei näherer Betrachtung jede Bedeutung – so auch User Experience.
Die Gestaltung von Nutzungserfahrungen ist älter als das Internet, älter als unsere Zivilisation. Bereits 4000 vor Christus wurden Räume nach der Lehre des Feng Shui angeordnet, um eine angenehme Erfahrung bei ihrer Benutzung zu erzeugen. Die allerersten Professor:innen, die das Wort „Design“ überhaupt benutzten – in Deutschland vermutlich Mies van der Rohe am renommierten Bauhaus – dachten schon darüber nach, wie es sich anfühlen würde, gestaltete Gegenstände zu benutzen, welche Funktion die Gestaltung in der Erfahrung erfüllt.
Die Einbeziehung der Nutzungserfahrung ist also schlichtweg Design, und war es auch schon immer. Früher sagte man auch einfach „Design“. Doch dann beschlossen die Agenturen dieser Welt, eine neue Sau durch’s Dorf zu treiben… Und sobald sich eine Bezeichnung in diesem Milieu etabliert hat, müssen alle auf den Zug aufspringen, um „State of the Art“ zu bleiben. Dabei sagen sie gar nichts anderes als vorher, nur klingt es jetzt besser.
Unzählige Blogs und Social Media Kanäle schreiben heute Texte über den Unterschied zwischen UI und UX Design. Die Tatsache, dass eine Tätigkeit derart viel Klärungsbedarf hat, zeigt bereits das Problem auf: eigentlich sollte User Experience ein selbstverständlicher Teil des Interfacedesigns sein, denn wer ein Interface rein ästhetisch denkt, vergisst den wichtigsten Teil. Aber nun gibt es ein Wort dafür, also müssen wir es erklären, denn dann können wir dafür Arbeitsstunden abrechnen.
2. Gefühlige Storytelling-Websites AKA zu viel UX Design
Ich möchte keineswegs sagen, Arbeitsstunden für UX seien fehlinvestiert. Die Intention ist wichtig und notwendig. Jedoch ist es absoluter Irrsinn, die Berufsgruppen völlig von einander zu trennen. UX ist nichts, das man zusätzlich über ein Projekt werfen kann, wie z.B. ein neues Farbschema. „Mach hier mal noch ein wenig UX drauf“ gibt es nicht. User Experience ist lösungsorientiertes, produkt- und zielgruppenbezogenes, logisches Denken. Dieses kann gerade im Web niemals losgelöst vom Interfacedesign und seiner Semantik passieren, sondern muss von Anfang damit einhergehen.
Oft arbeiten Menschen, die nicht an der Gestaltung selbst mitwirken, wochenlang in Vollzeit an Experience-Konzepten für ganz einfach lösbare Probleme. So entstehen all diese unerträglichen Storytelling-Websites mit einem endlosem Scroll, voller Animationen und Interaktionen, aber ohne Funktion, außer eben, ein bestimmtes Gefühl zu vermitteln. Was sie nicht wirklich schaffen – weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, Nutzer:innen mit „einzigartigen Erfahrungen“ überhäufen, nach denen niemand gefragt hat. Das Problem ist hier eindeutig: Zu viel UX.
3. Die Pseudowissenschaft AKA viel zu viel UX Design
Bevor eine Website entwickelt wird, ist es sinnvoll, die User Experience anhand eines klickbaren Prototypen zu testen, der die wichtigsten Flows abbildet.
Wenn komplexe Software oder Onlineportale konzipiert werden, kann es auch sinnvoll sein, zunächst Wireframings zu entwickeln. Danach können Testings mit echten Nutzer:innen in einem Klickdummy erfolgen, um das Verhalten im Interface zu analysieren und die Erfahrung durch das Ausmerzen von Schwachstellen noch vor der Entwicklung zu verbessern. Bei alledem gilt es, die Zielgruppe, ihre Bedürfnisse und die eigentlichen Funktionen nicht aus dem Auge zu verlieren. So weit, so gut.
Was aber in der Praxis häufig daraus wird, ist, dass selbst für einfachste Unternehmens-Website unzählige Workshops veranstaltet werden und unverhältnismäßig viel Zeit damit zugebracht wird, Personas zu erörtern, Wireframings zu collagieren oder gar Eyeball-Trackings durchzuführen, obwohl es keinen ersichtlichen Grund dafür gibt.
Diese Workshops existieren in erster Linie, weil sich Agenturen dafür sehr gut bezahlen lassen. Sie geben dem Management das Gefühl, selbst mitzuarbeiten und einen wichtigen Fortschritt zu schaffen. Die Ergebnisse und Methoden wirken wissenschaftlich und quantifizierbar, und Manager:innen lieben das.
Tatsache ist jedoch, dass gute Designer:innen sich per Definition sehr tief in Zielgruppen und Nutzungserfahrungen einfühlen können, dafür auch keine Workshops brauchen, und dass man für die wichtigsten Testings von herkömmlichen Websites nur einen ganz einfachen Klickdummy benötigt. Gute Designer:innen können hier in einem Bruchteil der Zeit zum qualitativ selben Ergebnis kommen, ohne dass dafür zigtausende Euro in Pseudowissenschaft fließen müssen. Doch solange Unternehmen bereit sind, sechsstellige Beträge für Websites zu zahlen, werden Agenturen einen Grund finden, diese Beträge auch abzurechnen.
Warum der Begriff „UX Design“ trotzdem hilfreich ist
Früher war es schlichtweg normal, eine riesige Lernkurve vorauszusetzen – bei der Nutzung von Geräten, Software, Autos, allen Dingen mit einer Eingabeoberfläche, waren es Nutzer:innen gewohnt, zunächst üben zu müssen oder gar eine Bedienungsanleitung zu lesen.
Diese (grauenvolle) Nutzungserfahrung ist zu Recht verschwunden – durch UX Design – und vielleicht war der Begriff allein hierfür notwendig. Denn wenn es ein eigenes Wort dafür gibt, kann ein Missstand besser kommuniziert werden. Man könnte auch sagen, früher war Design – besonders im Web – einfach deutlich schlechter. Durch das Vorhandensein des Begriffes, der den Mangel beschrieb, wurde deutlicher, was es zu tun gilt.
Ich selbst benutze den Begriff UX Design, um ein paar Tätigkeiten zu beschreiben, die in meinen Augen Teil von gutem Interfacedesign sind: Sorgfältiges Arrangement der Userflows und Steuerunselemente, falls nötig mit Hilfe von Dummys und Testing zu einer angenehmen Nutzungserfahrung optimiert.
Im Fall von sehr komplexer Software und Apps können auch all die besagten, wissenschaftlich anmutenden Methoden im Prozess helfen.
Aber nehmen Sie sich in Acht, wenn Ihnen für eine herkömmliche Website ein Workshop zur Erstellung von Personas oder gar ein Wireframing angeboten werden – hier werden Sie schlichtweg abgezogen.